Die Einführung


Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes.

Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten und Frieden und Segen sei auf dem Siegel der Propheten, Muhammad und seiner reinen Familie.

Die Muslime erachten die Unfehlbarkeit (Arabisch: عصمة Ismah) als eine wichtige Eigenschaft für jene Person, die das Amt des Prophetentums innehat. Diese Eigenschaft beschränkt sich nicht nur auf den Propheten Muhammad (s.), sondern dehnt sich ebenfalls auf alle anderen Propheten und Gesandten Gottes aus, die vor seiner Botschaft des Islam auftraten. 


Hingegen sind im Heiligen Qur'an einige Verse vorhanden, die bei ungenauer Betrachtung den Anschein erwecken könnten, dass Propheten wie Adam (a.) sowie einige andere Gesandte Gottes (a.) Sünden begangen hätten. Diese Vortragsreihe wurde von Sayyid Muhammad Rizvi und dessen Buch „The Infallibility of the Prophets in  the Qur'an” inspiriert und soll dazu dienen, das Konzept der Fehlerlosigkeit im Licht des Heiligen Qur'an besser zu verstehen.

[1] Die Definition von Ismah

Das arabische Wort عصمة Ismah bedeutet wortwörtlich Schutz. Im islamischen Wortschatz ist damit die Fehlerlosigkeit gemeint. Die Fehlerlosigkeit wird als eine spirituelle Gnade Gottes definiert, die es einer Person erlaubt, durch ihren freien Willen auf Sünden zu verzichten. 

Eine Person, der diese göttliche Gnade gewährt wird, bezeichnet man als معصوم Ma'sum, sündenlos oder auch fehlerlos.

Diese Fähigkeit der Ismah macht einen Ma'sum nicht unfähig Sünden zu begehen. Viel eher unterlässt ein Ma'sum die Sünden und Fehler aus seinem freien Willen heraus. Wenn es anders wäre, so bestände keine Leistung darin Ma'sum zu sein.

Ein Ma'sum ist in der Lage von den Sünden und Fehlern fern zu bleiben, aufgrund seiner hohen Rechtschaffenheit und seines ständigen Bewusstseins und der Liebe zu Gott sowie der sicheren Kenntnis über die Folgen des Begehens von Sünden.

Wir können einigen gewöhnlichen Menschen begegnen, die eine sehr aufrichtige Persönlichkeit besitzen und die nie auch nur im Traum auf die Idee kämen, bestimmte Sünden oder Verbrechen zu begehen. Die Stärke ihrer Persönlichkeit macht sie zu einer relativ fehlerlosen Person.

Zum Beispiel wäre jeder Mensch in der Lage nackt auf die Straße zu gehen, doch würde eine Person, die als guter Muslim erzogen wurde, auch nur an so etwas denken? Nein, denn es ist weit unter seiner Würde, sich auf so eine Art und Weise zu verhalten. Es ist für ihn nicht unmöglich so etwas zu tun, doch den Gedanken so etwas tun, könnte er sich nicht einmal vorstellen.

Warum? Weil ihm beigebracht und er so erzogen wurde, dass solch ein Verhalten seine Ehre verletzen würde und es unter der Würde eines zivilisierten menschlichen Wesens ist. 

Ähnlich ist auch ein Ma'sum dazu in der Lage, eine Sünde oder einen Fehler zu begehen, doch er könnte nicht einmal auf den Gedanken kommen, so etwas zu tun, denn die Liebe zu Gott in seinem Herzen lässt keinen Raum dafür, durch das Begehen einer Sünde, Gott unzufrieden zu machen und er ist sich über die Konsequenzen davon vollstens bewusst.

[2] Die Muslime und der Glaube an die Fehlerlosigkeit

Obwohl die Mehrheit der Muslime an die Ismah der Propheten (s.) glaubt, gibt es einen großen Meinungsunterschied über das Ausmaß ihrer Ismah.

Sunnitische Sichtweise:

Was die Sunniten anbelangt, so haben sie untereinander einen großen Meinungsunterschied. Ihre Ansichten ergeben sich folgendermaßen:

  • Über das Lügen und den Unglauben: Alle Sunniten glauben daran, dass die Propheten nicht lügen, weder absichtlich noch unabsichtlich, noch können sie vor oder nach ihrem Prophetenamt ungläubig sein
  • Absichtliche andere Sünden: Alle Sunniten glauben daran, dass die Propheten keine absichtlichen Sünden begehen können
  • Unabsichtliche große Sünden: Die Mehrheit glaubt daran, dass die Propheten solche Sünden begehen können, wohingegen eine Minderheit sagt, dass dies nicht möglich sei
  • Kleine Sünden: Die Mehrheit glaubt daran, dass die Propheten kleine Sünden begehen können, mit Ausnahme von kleinen Sünden, die sie in den Augen der Öffentlichkeit bloßstellen würden [Al-Qadi Abd-ul-Jabbar, Sharh-ul-Usul-il-Khamsah, Seite 573 - 575; Sharh-ut-Tajrid, Seite 464] 


Schiitische Sichtweise:

Die Schiiten glauben daran, dass alle Propheten Ma'sum, sündenlos und fehlerlos, sind. Sie begehen keine Sünden, weder große noch kleine, weder absichtliche noch unabsichtliche, von ihrer Geburt an bis zu ihrem Tod.

Dies ist der Glaube der Ash-Shi'ah Al-Imamiyyah Ithna 'Ashariyyah.

Es folgen drei Zitate schiitischer Gelehrte von damals bis zum heutigen Zeitalter, was die Beständigkeit dieses Glaubens unter den Schiiten aufzeigt.
  • Shaikh Abu Ja'far As-Saduq, welcher im Jahr 381 nach der Auswanderung verstarb, sagt: „Unsere Glaubenslehre, bezüglich der Propheten, Gesandten, Imame und Engel, besteht darin, dass sie Ma'sum, unfehlbar und von allen Makeln rein sind und, dass sie keine einzige Sünde begehen, weder eine große noch eine kleine. Jener, der ihre Fehlerlosigkeit in irgendeiner Angelegenheit ablehnt, die ihrem Rang angehört, ist unwissend über sie. Unsere Glaubenslehre über sie besteht darin, dass sie unfehlbar sind und die Eigenschaften der Perfektion, der Vollständigkeit und des Wissens besitzen und dies vom Anfang bis zum Ende ihrer Laufbahn.” [Al-Musannafat-ush-Shaikh-il-Mufid, Band 5, Al-I'tiqadat, Seite 96] 
  • Allamah Ibn Mutahhar Al-Hilli, welcher im Jahr 728 nach der Auswanderung verstarb, sagt, betreffend eines Propheten, folgendes: „Er ist von Geburt an bis zu seinem Tod vor Sünden immun.” [Al-Bab-ul-Hadi Ashar, Seite 179]
  • Shaikh Muhammad Rida Al-Muzaffar, ein berühmter Gelehrter der ersten Hälfte des Jahrhunderts, sagt: „Wir glauben daran, dass alle Propheten unfehlbar sind. Mit Unfehlbarkeit ist die Reinheit von allen Sünden gemeint, von den großen und von den kleinen, von Fehlern und von Achtlosigkeit.” [Aqa'id-ul-Imamiyyah, Seite 53 - 54]


[3] Die Logik der Fehlerlosigkeit

Die Propheten müssen Ma'sum sein, aus dem selben Grund, aus dem sie gesandt wurden: Um die Menschen rechtzuleiten und zu Gott zu führen. Gott, Der entschieden hat, die Menschheit rechtzuleiten, beabsichtigt es ebenfalls, makellose und vollkommene menschliche Wesen zu entsenden, welche als Vorbild und Beispiel dienen. Wenn sie nicht Ma'sum wären, so wäre es äußerst schwierig gewesen, überhaupt an die Botschaft zu glauben, abgesehen von dem Beispiel, dass sie für uns darstellen. Es gebe kein Vertrauen oder keine Gewissheit bei dem, was auch immer sie sagen, denn es könnte richtig und es könnte falsch sein.

Fehlerhafte Propheten zu entsenden, hätte den ganzen Zweck zunichte gemacht, für den sie entsandt wurden. Für die Propheten: Zu führen und rechtzuleiten. Für die Menschen: Zu folgen und zu gehorchen. 

Der Heilige Qur'an bestätigt diese Argumentation ebenfalls.

Der 1. Vers

وَمَا أَرْسَلْنَا مِن رَّسُولٍ إِلَّا لِيُطَاعَ بِإِذْنِ اللَّـهِ

„Und Wir haben die Gesandten nur deswegen entsandt, damit man ihnen gehorcht mit der Erlaubnis Gottes.” [An-Nisa' 4:64]

Der Koranvers stellt die göttliche Gesellschaftsordnung sehr deutlich dar: Der einzige Zweck der Propheten auf dieser Erde ist, dass ihnen von ihren Anhängern gehorcht wird und nicht, dass ihre Anhänger jede Tat und Aussage ihres Propheten kontrollieren und sie dann entscheiden, ob sie ihm gehorchen sollen oder nicht. 

Solch eine vollkommene Gehorsamkeit kann nicht möglich sein ohne, dass die Propheten Ma'sum sind, sündenlos und fehlerlos.

Der 2. Vers

يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا أَطِيعُوا اللَّـهَ وَأَطِيعُوا الرَّسُولَ وَأُولِي الْأَمْرِ مِنكُمْ 

„O ihr, die ihr glaubt, gehorcht Gott und gehorcht dem Gesandten und denjenigen unter euch, die die Befehlsgewalt besitzen.” [An-Nisa' 4:59]

In diesem Koranvers befiehlt uns Gott Ihm und Seinem Gesandten (s.) zu gehorchen. Es gibt noch zahlreiche andere Verse, in denen Gott die Befehlsform verwendet, um den Gläubigen anzuordnen, den Propheten und Gesandten zu gehorchen. Daneben sind ebenfalls viele Verse vorhanden, in denen die Vorzüglichkeiten der Gehorsamkeit gegenüber Seinen Propheten hervorgehoben werden und ebenfalls die Konsequenzen der Ungehorsamkeit ihnen gegenüber. 

Desweiteren hat Gott in den meisten dieser Verse die Gehorsamkeit zu Ihm, in Verbindung mit der Gehorsamkeit zu Seinem Gesandten (s.), erwähnt. Ein Koranvers stellt sogar die Gehorsamkeit zum Gesandten (s.) mit der Gehorsamkeit zu Gott gleich:

مَّن يُطِعِ الرَّسُولَ فَقَدْ أَطَاعَ اللَّـهَ

„Wer dem Gesandten gehorcht, gehorcht Gott.” [An-Nisa' 4:80]

Solche göttlichen Aussagen wären unmöglich, wenn die Propheten und Gesandten nicht Ma'sum und fehlerlos wären. Ansonsten würden wir uns in einer auswegslosen Situation befinden:

Wenn uns ein fehlbarer Prophet und Gesandter uns anordnen würde, etwas zu tun, was falsch ist, sollten wir ihm gehorchen oder nicht? In beiden Fällen wären wir verloren.

Wenn wir dem Propheten gehorchen würden und die Sünde täten, so wären wir der Ungehorsamkeit gegenüber Gott schuldig, Der uns befiehlt keine Sünden zu begehen. Wenn wir dem Propheten nicht gehorchen würden, um die Sünde nicht zu begehen, so wären wir der Ungehorsamkeit gegenüber Gottes ebenfalls schuldig, Der uns befiehlt den Propheten und Gesandten vollkommen zu gehorchen!

Der 3. Vers

Zu den oberen Koranversen kommen nun jene Verse hinzu, in denen es Gott verbietet, Personen zu gehorchen, die Sünden begehen:



فَلَا تُطِعِ الْمُكَذِّبِينَ .. وَلَا تُطِعْ كُلَّ حَلَّافٍ مَّهِينٍ .. مَّنَّاعٍ لِّلْخَيْرِ مُعْتَدٍ أَثِيمٍ


„So gehorche nicht denen, die dich der Lüge bezichtigen .. Und gehorche niemandem, der dauernd schwört .. Der das Gute verweigert, Übertretungen begeht und Sünde auf sich lädt.” [Al-Qalam 68:8,10,12]

وَلَا تُطِعْ مِنْهُمْ آثِمًا أَوْ كَفُورًا

„Und gehorche keinem von ihnen, der ein Sünder oder ein Undankbarer ist.” [Al-Insan 76:24]

وَلَا تُطِيعُوا أَمْرَ الْمُسْرِفِينَ

„Und gehorcht nicht dem Befehl der Maßlosen.” [Ash-Shu'ara' 26:151]

Wenn man diese Koranverse im Zusammenhang mit den vorherigen Versen betrachtet, so erhält man das Gesamtbild:
  • Den Propheten muss bedingungslos gehorcht werden
  • Den Sündigen und Übertretern darf nicht gehorcht werden
  • Die einzige logische Schlussfolgerung ist jene, dass die Propheten weder in die Kategorie der Sündigen noch in die Kategorie der Übertreter gehören


[4] Menschlichkeit und Unfehlbarkeit

Einige intellektuelle Muslime, die von der Idee des Humanismus, der Relativitätstheorie und des Pluralismus verwirrt wurden, sind darin bestrebt, die Propheten und Gesandten Gottes als fehlbare Personen zu präsentieren, um die moralische Schwäche, die unter gewöhnlichen Menschen zu finden ist, zu rechtfertigen.

Dieses Motiv kann ebenso in der frühen Geschichte des Islams beobachtet werden, als die Gelehrten, die sich den politischen Einrichtungen annäherten, versuchten, die Unfehlbarkeit der Propheten zu trüben, um die moralischen Schwächen und ethischen Verfehlungen der Herrscher ihrer Zeit zu rechtfertigen. Ebenfalls haben wir ein Beispiel dafür in der modernen Zeit.

Als Malcolm X ein Minister der Bewegung Nation of Islam war, beschrieb er, wie er es versuchte, die Unzucht des selbsternannten Propheten Elijah Muhammad zu rechtfertigen:

„Ich dachte an eine Brücke, die verwendet werden könnte, falls und wenn die erschütternden Enthüllungen öffentlich werden sollten. Treuen Muslimen konnte beigebracht werden, dass die Errungenschaften eines Mannes in seinem Leben, seine persönlichen menschlichen Schwächen überwiegen können. Wallace Muhammad [Elijahs Sohn] half mir, mir den Qur'an und die Bibel für eine Dokumentation vor Augen zu halten. Davids Unzucht mit Bathsheba überwog das historische Ausmaß wenig, gegenüber der positiven Tatsache, dass David Goliath tötete. Wenn wir an Lot denken, so denken wir nicht an Inzest, sondern wie er seine Leute vor der Vernichtung von Sodom und Gomorrah rettete. Oder wir denken bei Noah nicht daran, dass er betrunken war, sondern daran, wie er die Arche baute und den Menschen beibrachte, wie sie sich vor der Flut retten konnten. Bei Moses denken wir daran, wie er die Hebräer aus der Sklaverei befreite, aber nicht, wie er mit einer äthiopischen Frau Unzucht beging. In all diesen Fällen hielt ich mir vor Augen, dass das Positive das Negative überwog.”

Als er seine Strategie zur Eindämmung des Schadens Elijah Muhammad vortrug, sagte dieser:

„Sohn, ich bin nicht überrascht. Du hattest schon immer solch ein gutes Verständnis über das Prophetentum und spirituelle Angelegenheiten. Du erkennst, dass all dies Prophetentum ist. Du hast die Art des Verständnisses, die nur ein älterer Mann besitzt. Ich bin David. Wenn du liest, wie David die Frau eines anderen nahm, so bin ich dieser David. Wenn du über Noah, der betrunken wurde, liest, so bin ich es. Wenn du über Lot liest, der mit seinen eigenen Töchtern Geschlechtsverkehr hatte, so habe ich all jene Dinge ausgeführt.” [A. Haley, The Authobiography of Malcolm X; New York: Ballatine Books 1964, Seite 297 - 299]

Tom Harpur, ein Theologe und Ex-Minister der Kirche und ein Verfasser der religiösen Zeitschrift „The Toronto Star”, schrieb am 2. Mai 1993 den Artikel „Nicht einmal Jesus beanspruchte Unfehlbarkeit”. Da er Jesus schon seine Unfehlbarkeit absprach, ist es nicht verwunderlich, dass Tom Harpur im nächsten Jahr den zweiten Schritt unternahm und einen Artikel verfasste, der folgenden Namen trug: „Die Evangelien könnten die Vermutung unterstützen, dass Jesus homosexuell war.” [The Toronto Star, 2. Mai 1993, Seite B5; 15. Mai 1994, Seite A13]

Das ist, was passiert, wenn man den Propheten und den Gesandten Gottes die Unfehlbarkeit abspricht! Anstatt zu ihnen aufzusehen, wie zu Vorbildern und Rechtleitern, rechtfertigen einige Menschen, besonders jene, die in Machtpositionen sitzen, ihre eigenen unmoralischen Handlungsweisen und Lebensstile, indem sie die Propheten als fehlbar und sündhaft präsentieren.